Die Istanbul-Konvention und die Türkei
Passend zum 10. Jubiläum der Istanbul-Konvention tritt die Türkei aus dem Vertrag aus, der Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt 2011 abgeschlossen wurde. Die Übersetzerin und Herausgeberin Esril Bayrak kämpft in der Kampagne für die weitere Umsetzung der Istanbul-Konvention in der Türkei. Gül Keetman sprach mit ihr am Tag nach Erdogans Entscheidung, die Istanbul-Konvention zu verlassen.
Gül Keetman: Gestern Abend wurde die Entscheidung, dass die Türkei die Istanbul-Konvention am 1. Juli verlassen wird, offiziell veröffentlicht. Nun möchte ich zur ersten Frage übergehen: Warum war und ist die Istanbul-Konvention für die in der Türkei lebenden Frauen wichtig?
Esril Bayrak: Das ist ein Vertrag, der den Staaten eine Verantwortung gibt. Die Staaten, die diesen Vertrag unterschrieben haben, sind dazu verpflichtet, eine Politik zu entwickeln, die gewährleistet, dass Frauen vor Gewalt geschützt werden und dass sie als Staat, wenn das nicht geht, für Bestrafung und Abschreckung sorgen.
Das ist insbesondere wichtig für ein Land wie die Türkei, in dem die Ungleichheit der Geschlechter in der Gesellschaft so groß ist, in dem der Familie ein so großer Wert beigemessen wird. Um die Frauen zu schützen, die der Gewalt in der Familie ausgesetzt sind, es ist ein lebenswichtiger Vertrag. Auch wenn die Konvention nicht ganz umgesetzt wurde, hat sie auf der symbolischen Ebene abschreckend gewirkt und sie hat in der Öffentlichkeit sehr dazu beigetragen, das Denken gegen die Gewalt zu fördern. Deshalb ist es für die Frauen eine sehr wichtige Konvention.
Gül: Der Vertragstext ist sehr lang. Besonders aufgefallen ist mir, dass die Konvention einen internationalen Kontrollmechanismus ins Leben ruft.
Esril: Ja, da es sich um einen Vertrag des Europarates handelt, sind die unterzeichnenden Staaten einer Kontrolle unterworfen, ob sie die aus dem Vertrag erwachsenden Verpflichtungen auch erfüllen. Deshalb müssen die Staaten den Vertrag auch ganz umsetzen. Deshalb will sich die Türkei auch daraus zurückziehen. denn die Türkei ist kein Land, das die Gleichstellung von Frauen und Männern besonders gewährleistet und wünscht.
Gül: Das erste Land, das diesen Vertrag im Jahr 2014 unterschrieben hat, war die Türkei. Warum haben sie das Eurer Meinung nach gemacht?
Esril: Man wollte das Bild im Ausland wieder auffrischen. Wegen einiger Frauenmorde hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Strafen gegen die Türkei verhängt. Man wollte das beschädigte Image wieder in Ordnung bringen. Dass die Türkei als erste unterschrieben hat, zielte mehr auf das Bild im Ausland als auf die Innenpolitik.
Gül: Was ändert sich mit dem Rücktritt von dieser Konvention? Die Situation der Frauen wird sich sicher verschlechtern. Gibt es jetzt bereits ein paar negative Effekte, Auswirkungen die Sie festgestellt haben?
Esril: Zum ersten Mal wurde die Entscheidung, die Konvention zu verlassen, in der Nacht zum 20. März offiziell verbreitet. Seit der ersten Verlautbarung war eine Zunahme bei den Frauenmorden zu erleben. Das heißt, obwohl der Rückzug vom Vertrag nicht vollzogen, sondern nur angekündigt war, hat das bei den Männern einen Eindruck verfestigt, dass es in der Gesellschaft, auf der Ebene des Staates keine hohe Strafe geben würde, wenn Männer Frauen töten: ‚Wenn ich dich töte, dann komme ich drei oder fünf Monate ins Gefängnis, vielleicht auch gar nicht‘. Die Männer wissen sehr wohl, dass sie den Staat hinter sich haben.
Gül: In den sozialen Medien habe ich gestern gesehen, da hat ein Mann, ich glaube es war in Diyarbakir, ein fünfzehnjähriges Mädchen vergewaltigt und dann der Familie damit gedroht: „Der Staat steht hinter mir, mir kann nichts passieren!“
Esril: Ja, ja, leider sehen wir gerade in letzter Zeit einige Beispiele dieser Art. Und davon erfahren wir nicht durch den Staat oder irgendein Presseorgan, das heißt von irgendeinem Presseorgan, das dem Staat nahe steht. Nur durch Bilder, Filme, die die von der Gewalt betroffenen Frauen machen können oder andere Beweismittel von ihnen erfahren wir davon. Das ist nur ein kleiner Teil. Wir wissen nicht, was darüber hinaus noch geschieht. Es ist ganz klar, dass die Männer im Herauskehren von Gewalt, bei der Anwendung von Gewalt und beim Töten sehr bestärkt wurden.
Gül: Nach einigen Analysen steckt hinter der Entscheidung Erdogans, von der Konvention zurückzutreten, sich von radikaleren islamistischen Kreisen mehr Unterstützung zu holen, weil in der Gesellschaft die Unterstützung für ihn laufend zurückgeht. Wie denken Sie darüber?
Esril: Die Partei, die die radikalen Islamisten im Parlament und als politische Partei vertritt, ist im Grunde die Glückseligkeitspartei. Das ist eine Partei, die ihre Bedenken wegen der Istanbul-Konvention ständig äußert. Und in dem Maße, wie Erdogans seine eigene, verknöcherte Basis verliert, versucht er eine weitere Wählergruppe zu gewinnen.
Insbesondere die Zunahme der LBGT ist für ihn Ausgangspunkt, dass der Vertrag mit der Familie, mit den türkischen Traditionen, mit den türkischen Sichtweisen, mit der Natur des türkischen Menschen und mit religiösen Traditionen und der religiösen Praktik unvereinbar sei. Wir wissen, dass er damit radikale Islamisten und die Glückseligkeitspartei an seine Seite bringen will. Im Grunde ist es die Sorge um Stimmverluste.
Gül: Was für einen Kampf führen Sie als feministische Gruppen, als demokratische Bewegungen gegen diese Entscheidung und was erwarten Sie von feministischen Gruppen oder demokratischen Organisationen im Ausland?
Esril: Ein Fuß der politischen Arbeit ist im Parlament. Einige Frauenorganisationen erzählen ständig den politischen Parteien und Abgeordneten, wie wichtig der Vertrag ist, halten ihn auf der Tagesordnung des Parlaments. Ein weiterer Fuß des Kampfes steht auf der Gasse. Im Moment können wir das zwar wegen der Corona-Ausgangssperre nicht machen, aber seitdem die Entscheidung das erste Mal offiziell bekanntgegeben wurde, waren wir ständig in Aktion, haben die Frauenorganisationen in Istanbul, in Ankara und in den kleineren Städten die Straßen mit ihren Aktionen nicht allein gelassen. In Massen haben wir uns im Istanbuler Stadtteil Kadiköy getroffen, kleinere Stadtteilgruppen haben in ihren Stadtteilen Sitzungen abgehalten und die Istanbul-Konvention diskutiert. Jetzt ist es das Hauptziel, den Menschen auf der Straße die Wichtigkeit der Konvention für die Frauen ganz klar zu machen und ihre Unterstützung zu gewinnen. Demnächst wird eine Website über die Istanbul-Konvention eröffnet. Alle Ereignisse seit der Unterschrift unter diese Konvention werden dort verzeichnet und ein Manifest wird veröffentlicht werden. Wir planen auch eine noch größere Massenaktion. Das heißt, einerseits arbeiten wir auf der Ebene des Parlaments, andererseits kommunizieren wir mit den Menschen auf der Straße und kämpfen dort für unser Recht.
Gül: Wie du schon am Anfang erwähnt hast, bindet die Konvention die Staaten, sogar sehr. Daher ist es sehr natürlich, dass eine Partei wie die AKP, die bei solchen Themen nicht gerade ehrlich dabei ist, auf diesen Vertrag verzichten will. Was erwartest du von Organisationen im Ausland?
Esril: Natürlich haben wir das! Zunächst wollen wir Eure Stimme hören. Wir wünschen uns, dass unser politischer Kampf in der Türkei auf der ganzen Welt und in Europa eine Entsprechung hat, damit er gesehen wird. Aber darüber hinaus wollen wir, dass es nicht nur als Solidarität, sondern als gemeinsamer Kampf gesehen wird. Denn auf der ganzen Welt und auch in Europa nehmen die Frauenfeindschaft, die Gegnerschaft gegen die LBGT, die Ablehnung von Abtreibungen stark zu. Autoritäres Denken, das die Familie ins Zentrum rückt, ist im Aufwind. Der Hass auf die LBGT und die Betonung nationaler Abgrenzungen hat in letzter Zeit in allen Ländern ohne Unterschied stark zugenommen. Deshalb wollen wir nicht, dass der Kampf in der Türkei bleibt, denn wir denken, dass er ganz Europa, dass er sogar die ganze Welt angeht, alle feministischen Organisationen. Deshalb wollen wir einen gemeinsamen Kampf. Ihr in Europa solltet auch so denken.
Außerdem ist die Istanbul Konvention ein Abkommen auf der Ebene des Europarates und auch deshalb wollen wir, dass die Frauenorganisationen in Europa den Prozess des Ausscheidens verfolgen, der am 1. Juli abgeschlossen sein soll. Eben weil der Europarat zuständig ist und wir nicht so gut auf unsere Regierung Einfluss nehmen können.
Das wird auch ein schlechtes Beispiel für Europa sein, denn es ist eine antidemokratische Entscheidung, die Entscheidung eines einzigen Mannes. Deshalb wollen wir, dass die Frauenorganisationen den antidemokratischen Charakter dieser Entscheidung hervorheben und Druck auf Europa, auf die europäischen Länder und auf den Europarat ausüben. Sie sollen die Öffentlichkeit für das Thema sensibilisieren.
Gül: Dabei kommt mir in den Sinn, dass eine Entscheidung, der das Parlament zugestimmt hat, nur vom Parlament aufgehoben werden kann. Es ist also eine Entscheidung ohne rechtliche Grundlage.
Esril: Ja, es ist eine durch und durch antidemokratische Entscheidung, denn eine Entscheidung des Parlamentes könnte nur durch das Parlament aufgehoben werden. Die Feministinnen sind sich einig, dass das eigentlich ein ungültiges Verfahren ist.